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Mittwoch, 8. Oktober 2008

Monumentalwerk zu Hausnummerierung erschienen

Vor kurzem erschienen: Bernhard Wittstocks Monumentalwerk, eine gewichtige (mehr als sieben Kilo!) Quellensammlung zur Geschichte der Hausnummerierung:

Wittstock, Bernhard: Die Berliner Hausnummer. Von den Anfängen Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart im deutschen und europäischen Kontext. 5 Bände. Berlin: Pro BUSINESS Verlag, 2008. 2828 S., ISBN: 978-3-86805-192-6, 149 Euro. [Verlags-Info]

Wichtig zu betonen ist, dass diese fünf Bände Materialien nicht nur zur Hausnummerierung in Berlin, sondern auch zu vielen anderen Städten enthalten. Und es gibt jede Menge Fotos von Hausnummern! Eines der Vorworte des Werks stammt von mir, ich bringe es auch hier:

Dass etwas so selbstverständliches wie die Hausnummer eine Geschichte haben könnte, verblüfft zunächst einmal; wer sich mit Hausnummern beschäftigt und davon Kolleginnen und Kollegen erzählt, wird oft mit deren und zuweilen auch dem eigenen Lachen ob dieser Tätigkeit konfrontiert. Zu abwegig erscheint es, sich mit einem solchen Detail zu beschäftigen, zu abstrus, Zeit dafür zu verschwenden. Dass jedoch die Hausnummer in den letzten Jahren zunehmend die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist kein Zufall: Es ist die mediale, durch Computer wie Internet ausgelöste Revolution, die die Geschichte der Adressierung zu einem wichtigen Thema werden lässt; so sind es nicht zuletzt Medienwissenschafter wie Friedrich Kittler,(1) Bernhard Siegert(2) oder Markus Krajewski(3), die sich der Hausnummer zumindest in Randbemerkungen gewidmet haben.
Bis eine umfassende Geschichte dieser Adressierungstechnik – verstanden als einer Sonderform der Kulturtechnik Nummerierung – geschrieben werden kann, ist jedoch noch einiges an Recherchearbeit nötig, denn etliche Fragen bedürfen einer Klärung:
Wie sieht es mit den Anfängen der Hausnummerierung aus? Gibt es ein Herkunftsland, einen Erfinder oder eine Erfinderin, gar eine „Urszene“ der Hausnummer? Oder gilt nicht viel eher – und alles spricht bislang dafür –, was Marx in einer Fußnote zu seinem Kapital festgestellt hat, nämlich, dass „[e]ine kritische Geschichte der Technologie (...) nachweisen [würde], wie wenig irgendeine Erfindung des 18. Jahrhunderts einem einzelnen Individuum gehört.“(4)
Wie genau steht es um den Zusammenhang zwischen Häuserverzeichnissen und Hausnummern, zwischen nummerierter Liste und der Nummerierung von in diesen Listen aufgeführten Gegenständen? Wie kommt es zu dieser Bewegung oder Verdopplung der Nummer, vom Papier hin auf das Objekt?
Wie funktioniert das Auffinden von Gebäuden in Rasterstädten, seien es antike oder lateinamerikanische?(5) Und schließlich: Wie kommt es zu Entstehung der straßenweisen, wechselseitigen („Zick-Zack“-) Nummerierung? Ist sie tatsächlich – wie es der US-amerikanische Geograph John Pinkerton nahe legt – schon in den USA gebräuchlich, als sie dann Anfang des 19. Jahrhunderts in Paris eingeführt wird?
Immerhin; bei der Frage, um was für einen Typ Zahl es sich bei der Hausnummer handelt, schafft die terminologische Arbeit der Germanistin Heike Wiese Klarheit, die sich mit den verschiedenen Gebrauchsweisen von Zahlen beschäftigte. Wiese unterscheidet drei Arten von Zahlzuweisungen: Erstens die „kardinalen Zahlzuweisungen“, bei denen Zahlen die Kardinalität, also die Anzahl von Elementen innerhalb einer Menge identifizieren, also zum Beispiel eine Menge von Bleistiften – vier Bleistifte – oder eine Menge von Maßeinheiten, wie zum Beispiel: Drei Liter Wein. Zweitens gibt es die „ordinalen Zahlzuweisungen“, bei denen Zahlen den Rang eines Elements innerhalb einer bestimmten Sequenz identifiziert: als Beispiel könnte man hier den dritten Platz eines Marathonläufers bei einem Wettbewerb anführen, wo also die Zahl drei angibt, dass er als drittschnellster im Ziel eingelaufen ist. Zuletzt führt Wiese die „nominalen Zahlzuweisungen“ an, bei denen Zahlen Objekte innerhalb einer Menge identifizieren. Zahlen werden hier als Eigennamen gebraucht, als Beispiele für solche Verwendungsweisen könnte man Hausnummern, Nummern von Bus- und Straßenbahnlinien oder Telefonnummern anführen. Zahlen können Objekten also zu drei Zwecken zugewiesen werden: Erstens zur Bestimmung der Kardinalität von Mengen, zweitens zur Bestimmung des Rangs von Objekten in einer Sequenz und drittens zur Bestimmung der Identität von Objekten in einer Menge; es gibt kardinale, ordinale und nominale Zahlzuweisungen.(6)
Bei der Hausnummer handelt es sich demnach um eine nominale Zahlzuweisung, wobei es allerdings vorkommt, dass sich die verschiedenen von Wiese genannten Gebrauchsweisen vermischen. Dies lässt sich an den 1770 in der Habsburgermonarchie ortschaftsweise eingeführten Hausnummern exemplarisch darstellen: Bei ihnen entsprach – zumindest in der Theorie – die Zahl des letzten Hauses der Anzahl der Häuser der jeweiligen Ortschaft; es war möglich, Listen zu erstellen, in denen neben dem Namen der Ortschaft die Zahl der letzten Hausnummer der Ortschaft geschrieben wurde und man konnte die Zahl der Häuser oder genauer: der vergebenen Hausnummern innerhalb eines Landes bestimmen; so lässt sich zum Beispiel feststellen, dass in den 1770/72 in der Habsburgermonarchie von der Seelenkonskription erfassten Ländern 1,100.399 Häuser nummeriert wurden. Auch die ordinale Zahlzuweisung kann bei Hausnummern eine Rolle spielen, es ist ja keineswegs so, dass es irrelevant ist, welches Haus die Nummer eins bekommt; so berichtet der Chronist des Pariser Stadtlebens, Louis-Sébastien Mercier, dass bei der Vergabe der Hausnummern alle die Nummer eins wollen, alle wollen Cäsar gleichen, keiner möchte in Rom der zweite sein; es könnte doch glatt sein, dass eine noble Toreinfahrt nach einer nichtadligen Werkstatt nummeriert würde, was eine Prise Gleichheit mit sich brächte, vor deren Etablierung man sich wohl hüten muss.(7) Kein Wunder also, dass im Falle der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert, wo in jedem Ort die Hausnummer 1 nur einmal vergeben wurde, oft das Schloss oder der Sitz der Grundherrschaft die Nummer 1 zugedacht bekam.
Die Erforschung der Geschichte der Hausnummerierung bleibt jedenfalls weiter spannend; es ist das Verdienst der vorliegenden, von Bernhard Wittstock in jahrelanger Arbeit zusammengetragenen Anthologie, wichtige Materialien für die künftige Forschung zur Verfügung zu stellen.

(1) Kittler, Friedrich A.: Die Stadt ist ein Medium, in: Fuchs, Gotthard/Moltmann, Bernhard/Prigge, Walter (Hg.): Mythos Metropole. Frankfurt am Main: Suhrkamp es 1912, 1995, S. 228–244, hier S. 238f. (Erstveröffentlichung 1988).
(2) Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751 – 1913. Berlin: Brinkmann & Bose, 1993, S. 105f., 126f.
(3) Krajewski, Markus: ZettelWirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. (=Copyrights; 4). Berlin: Kadmos, 2002.
(4) Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin: Dietz Verlag, 34. Aufl., 1993, S. 392, Anm. 89
(5) Vgl. Siegert, Bernhard: Passagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien und Amerika. München: Fink, 2006, S. 142-150; Ders: (Nicht) Am Ort. Zum Raster als Kulturtechnik, in: Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar 49, 3/2003, S. 92–104. Zum Wegfinden in der Antike siehe: Ling, Roger: A Stranger in Town: Finding the Way in an Ancient City, in: Greece & Rome, 37.1990, S. 204–214.
(6) Wiese, Heike: Sprachvermögen und Zahlbegriff. Zur Rolle der Sprache für die Entwicklung numerischer Kognition, in: Schneider, Pablo/Wedell, Moritz (Hg.): Grenzfälle. Transformationen von Bild, Schrift und Zahl. (=visual intelligence. Kulturtechniken der Sichtbarkeit; 6). Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, 2004, S. 123–145, hier 127f.
(7) Mercier, Louis-Sébastien: Tableau de Paris. 2 Bände. Paris: Mercure de France, 1994, Bd.1, Kap. 170, S. 403.


Nachtrag 11.10.2008: Hihi, in der Netzzeitung ist Patrick Loewenstein auf das Werk aufmerksam geworden. Nun denn, schön, dass die Wichtigkeit der Hausnummernforschung gewürdigt wird, schließlich gibt es noch viele zu klärende Fragen!