Die Akademie der Wissenschaften als Sturmgeschütz der Reaktion - eine Debatte um 1810
Die Austritte von Renée Schröder und Gunther Tichy aus der Österreichischen Akademie der Wissenschaften haben eine Debatte um die politische Ausrichtung dieser Forschungseinrichtung entfacht, nachzulesen u. a. im Standard (1, 2, 3, 4) und in Science ORF.
Ähnliche Diskussionen um die politische Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Akademie lassen sich schon lange vor deren Gründung 1847(1) feststellen; nachdem Leibniz um 1700 mit seinen Akademieplänen gescheitert war und auch die Bemühungen zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. nicht verwirklicht wurden, sollte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der Kriege gegen das (post)revolutionäre Frankreich diese Debatte in eine neue Phase treten; folgende Erzählung war es, die zur Begründung einer solchen Einrichtung in Wien - dem Zentrum der Reaktion - bemüht wurde:
Im Gefolge der Französischen Revolution wären viele deutsche und französische Schriftsteller "als Vertheidiger und Lobredner wilder Schwärmerey" aufgetreten; diese "heimlichen und öffentlichen Feinde" hätten es sich zum Zweck gemacht, "den stets guten und patriotischen Sinn der österreichischen Völker zu verderben".(2) Die Monarchie wurde als bedroht gesehen von diesen Schriften, von diesen "ephemere[n] Ausgeburten des Zeitgeistes, eines muthwilligen Aberwitzes, einer kränklichen Phantasie"(3); genau dagegen richtete sich die Zensur, doch dies allein wäre unbefriedigend. Im Vergleich zur Zensur würde es ein effizienteres Mittel gegen die Feinde Österreichs geben, nämlich eine Akademie, deren Mitglieder "die Irrthümer und Verleumdungen" durch jene Schriften aufdecken und die öffentliche Meinung würden leiten können.(4)
Im Jahr 1811 wird es als möglich gesehen, das Versäumte nachzuholen: Nun, da die Zeiten vorbei wären, wo die Gelehrten als "unruhiges Volk" betrachtet werden konnten, wo die Revolution in Europa sich "ausgebraust" hätte, Besonnenheit und Ruhe zurückgekehrt wären, würde die Regierung in der Gelehrsamkeit eine "natürliche Stütze" finden; eine Akademie könnte den Arbeiten der Gelehrten "eine nützliche Richtung geben", was "die Hauptzwecke des Staats und der Regierung" sehr befördern würde, denn Wissenschaft ist ein Dienst an der Menschheit und am Staat, ganz genauso wie der Dienst im Feld, im Bureau oder am Altar.(5) Der zugereiste Konvertit Friedrich Schlegel war in dieser Angelegenheit der gleichen Auffassung. Nicht nur, dass einer der hier genannten Artikel in einer von ihm redigierten Zeitschrift – dem "Österreichischen Beobachter"(6) – erschienen war, stellte er in den für seinen persönlichen Gebrauch niedergeschriebenen "Fragmenten zur Geschichte", verfasst im Oktober 1809, als er sich gerade auf der Flucht vor den Armeen Napoleons in Ungarn befand, folgende Überlegungen zur Zensur an: Demnach sollten zwar "[w]issenschaftliche Werke [...] in einem Staat wo Toleranz eingeführt ist, ganz frei sein", aber sie sollten "durch die indirecte Censur der Kritik in Aufsicht genommen" werden, um "gefährlichen Systemen und d[em] Sectengeist" vorzubeugen; diese "Kritik als Censur" sollte "von der Nationalakademie und von der Universität" nicht nur "besorgt", sondern "ihnen" geradezu "zur Pflicht gemacht" werden.(7)
In den folgenden Jahren wurden derlei Akademiepläne immer wieder ventiliert; so sollten 1817 und 1818 bei Metternich drei Akademieprojekte einlangen, die von Friedrich Christian Münter, Bischof von Seland, Friedrich Tiburtius und Friedrich Schlegel verfasst waren und sich darin einig waren, dass sie "den Fluch der Barbarei von Europa abwenden", Literatur und Kunst von Auswüchsen säubern und die "vaterländischen Gesinnungen und rechtlichen Grundsätze" aufrecht erhalten sollten.(8)
-Aufgabe einer Akademie der Wissenschaften ist demnach die Eindämmung des die Französische Revolution vorangetrieben habenden "Exzeß der Wörter" (Jacques Rancière); eine Akademie braucht es, um die gefährlichen, demokratischen, noch dazu oft ausländischen (!) Schriften zu bekämpfen.
Grundlage des Beitrags: Aspalter, Christian/Tantner, Anton: Ironieverlust und verleugnete Rezeption: Kontroversen um Romantik in Wiener Zeitschriften, in: Aspalter, Christian / Müller-Funk, Wolfgang / Saurer, Edith / Schmidt-Dengler, Wendelin / Tantner, Anton (Hg.): Paradoxien der Romantik. Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert. Wien: Wiener Universitätsverlag, 2006, S. 47–120, hier 83 - 89. PDF: http://tantner.net/publikationen/AspalterTantner_Ironieverlust_ParadoxienRomantik.pdf
Anmerkungen:
(1) Meister, Richard: Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847 – 1947. Wien: Holzhausen, 1947; Hittmair, Otto/Hunger, Herbert: Akademie der Wissenschaften. Entwicklung einer österreichischen Forschungsinstitution. Wien 1997.
(2) Ridler, J. W.: Nekrolog auf Anton Simon. In: Österreichischer Beobachter, 1810, Beilage Nr. 28/29 (unpaginiert).
(3) Sartori, Franz: Übersicht über die literarische Thätigkeit in Oesterreich während der Jahre 1808 und 1809. In: Vaterländische Blätter, 23. November 1810/29. November 1810, Nr.58/59, S. 413.
(4) Ridler, Nekrolog
(5) Gedanken über eine Österreichisch-kaiserliche Akademie der Wissenschaften. In: Vaterländische Blätter, 2. Jänner 1811, Nr.1, S. 1–8, hier 2 f.
(6) Korpus, Klara: Friedrich Schlegel als Geschichtsphilosoph und Geschichtsschreiber, Politiker und Journalist. Dissertation Universität Wien 1916, S. 70–75; Mühlhauser, Josef: Die Geschichte des "Österreichischen Beobachter" von der Gründung bis zum Tode von Friedrich von Gentz. Dissertation Universität Wien 1948; Foit, Johann: Die publizistische Tätigkeit Friedrich Schlegels in Wien. Dissertation Universität Wien 1956, S. 84–109.
(7) Schlegel, Friedrich: Zur Geschichte. 1809. October; in: Ders.: Fragmente zur Geschichte und Politik. Erster Teil. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA), Hrsg. von Ernst Behler. Bd.20, S. 219–260, hier 234, F 8.
(8) Schlitter, Hanns: Gründung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. (Ein Beitrag zur Geschichte des vormärzlichen Österreichs). In: Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte, 197, 5. Abhandlung. Wien 1921; zu Münter: S. 19–26 ("Fluch": S. 25), zu Tiburtius: S. 26; Schlegel, Friedrich: Über die litterarisch politische Wirksamkeit und den dadurch auf die öffentliche Meinung zu erhaltenden Einfluss (20.11.1816); KFSA. Bd.21, S. 406–412 ("Gesinnungen": S. 411).
Ähnliche Diskussionen um die politische Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Akademie lassen sich schon lange vor deren Gründung 1847(1) feststellen; nachdem Leibniz um 1700 mit seinen Akademieplänen gescheitert war und auch die Bemühungen zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. nicht verwirklicht wurden, sollte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der Kriege gegen das (post)revolutionäre Frankreich diese Debatte in eine neue Phase treten; folgende Erzählung war es, die zur Begründung einer solchen Einrichtung in Wien - dem Zentrum der Reaktion - bemüht wurde:
Im Gefolge der Französischen Revolution wären viele deutsche und französische Schriftsteller "als Vertheidiger und Lobredner wilder Schwärmerey" aufgetreten; diese "heimlichen und öffentlichen Feinde" hätten es sich zum Zweck gemacht, "den stets guten und patriotischen Sinn der österreichischen Völker zu verderben".(2) Die Monarchie wurde als bedroht gesehen von diesen Schriften, von diesen "ephemere[n] Ausgeburten des Zeitgeistes, eines muthwilligen Aberwitzes, einer kränklichen Phantasie"(3); genau dagegen richtete sich die Zensur, doch dies allein wäre unbefriedigend. Im Vergleich zur Zensur würde es ein effizienteres Mittel gegen die Feinde Österreichs geben, nämlich eine Akademie, deren Mitglieder "die Irrthümer und Verleumdungen" durch jene Schriften aufdecken und die öffentliche Meinung würden leiten können.(4)
Im Jahr 1811 wird es als möglich gesehen, das Versäumte nachzuholen: Nun, da die Zeiten vorbei wären, wo die Gelehrten als "unruhiges Volk" betrachtet werden konnten, wo die Revolution in Europa sich "ausgebraust" hätte, Besonnenheit und Ruhe zurückgekehrt wären, würde die Regierung in der Gelehrsamkeit eine "natürliche Stütze" finden; eine Akademie könnte den Arbeiten der Gelehrten "eine nützliche Richtung geben", was "die Hauptzwecke des Staats und der Regierung" sehr befördern würde, denn Wissenschaft ist ein Dienst an der Menschheit und am Staat, ganz genauso wie der Dienst im Feld, im Bureau oder am Altar.(5) Der zugereiste Konvertit Friedrich Schlegel war in dieser Angelegenheit der gleichen Auffassung. Nicht nur, dass einer der hier genannten Artikel in einer von ihm redigierten Zeitschrift – dem "Österreichischen Beobachter"(6) – erschienen war, stellte er in den für seinen persönlichen Gebrauch niedergeschriebenen "Fragmenten zur Geschichte", verfasst im Oktober 1809, als er sich gerade auf der Flucht vor den Armeen Napoleons in Ungarn befand, folgende Überlegungen zur Zensur an: Demnach sollten zwar "[w]issenschaftliche Werke [...] in einem Staat wo Toleranz eingeführt ist, ganz frei sein", aber sie sollten "durch die indirecte Censur der Kritik in Aufsicht genommen" werden, um "gefährlichen Systemen und d[em] Sectengeist" vorzubeugen; diese "Kritik als Censur" sollte "von der Nationalakademie und von der Universität" nicht nur "besorgt", sondern "ihnen" geradezu "zur Pflicht gemacht" werden.(7)
In den folgenden Jahren wurden derlei Akademiepläne immer wieder ventiliert; so sollten 1817 und 1818 bei Metternich drei Akademieprojekte einlangen, die von Friedrich Christian Münter, Bischof von Seland, Friedrich Tiburtius und Friedrich Schlegel verfasst waren und sich darin einig waren, dass sie "den Fluch der Barbarei von Europa abwenden", Literatur und Kunst von Auswüchsen säubern und die "vaterländischen Gesinnungen und rechtlichen Grundsätze" aufrecht erhalten sollten.(8)
-Aufgabe einer Akademie der Wissenschaften ist demnach die Eindämmung des die Französische Revolution vorangetrieben habenden "Exzeß der Wörter" (Jacques Rancière); eine Akademie braucht es, um die gefährlichen, demokratischen, noch dazu oft ausländischen (!) Schriften zu bekämpfen.
Grundlage des Beitrags: Aspalter, Christian/Tantner, Anton: Ironieverlust und verleugnete Rezeption: Kontroversen um Romantik in Wiener Zeitschriften, in: Aspalter, Christian / Müller-Funk, Wolfgang / Saurer, Edith / Schmidt-Dengler, Wendelin / Tantner, Anton (Hg.): Paradoxien der Romantik. Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert. Wien: Wiener Universitätsverlag, 2006, S. 47–120, hier 83 - 89. PDF: http://tantner.net/publikationen/AspalterTantner_Ironieverlust_ParadoxienRomantik.pdf
Anmerkungen:
(1) Meister, Richard: Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847 – 1947. Wien: Holzhausen, 1947; Hittmair, Otto/Hunger, Herbert: Akademie der Wissenschaften. Entwicklung einer österreichischen Forschungsinstitution. Wien 1997.
(2) Ridler, J. W.: Nekrolog auf Anton Simon. In: Österreichischer Beobachter, 1810, Beilage Nr. 28/29 (unpaginiert).
(3) Sartori, Franz: Übersicht über die literarische Thätigkeit in Oesterreich während der Jahre 1808 und 1809. In: Vaterländische Blätter, 23. November 1810/29. November 1810, Nr.58/59, S. 413.
(4) Ridler, Nekrolog
(5) Gedanken über eine Österreichisch-kaiserliche Akademie der Wissenschaften. In: Vaterländische Blätter, 2. Jänner 1811, Nr.1, S. 1–8, hier 2 f.
(6) Korpus, Klara: Friedrich Schlegel als Geschichtsphilosoph und Geschichtsschreiber, Politiker und Journalist. Dissertation Universität Wien 1916, S. 70–75; Mühlhauser, Josef: Die Geschichte des "Österreichischen Beobachter" von der Gründung bis zum Tode von Friedrich von Gentz. Dissertation Universität Wien 1948; Foit, Johann: Die publizistische Tätigkeit Friedrich Schlegels in Wien. Dissertation Universität Wien 1956, S. 84–109.
(7) Schlegel, Friedrich: Zur Geschichte. 1809. October; in: Ders.: Fragmente zur Geschichte und Politik. Erster Teil. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA), Hrsg. von Ernst Behler. Bd.20, S. 219–260, hier 234, F 8.
(8) Schlitter, Hanns: Gründung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. (Ein Beitrag zur Geschichte des vormärzlichen Österreichs). In: Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte, 197, 5. Abhandlung. Wien 1921; zu Münter: S. 19–26 ("Fluch": S. 25), zu Tiburtius: S. 26; Schlegel, Friedrich: Über die litterarisch politische Wirksamkeit und den dadurch auf die öffentliche Meinung zu erhaltenden Einfluss (20.11.1816); KFSA. Bd.21, S. 406–412 ("Gesinnungen": S. 411).
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Wissenschaft - Sa, 12. Mai. 2012, 11:16