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Ebenfalls durchaus hörenswert,...
Ebenfalls durchaus hörenswert, die in der Diagonal-Ausgabe...
adresscomptoir - 2022/10/25 22:33
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Belleville

Nett, in der NZZ (Printausgabe, 13.4.2006, S.43) gibt's heute einen Artikel über Belleville, in dem auch die Rue des Couronnes erwähnt wird, in der ich zur Zeit in Paris wohne:

Paris, gestern und heute (9)

Patchwork mit Panorama
Kosmopolitisches Dorf: Belleville

Georges Perec wurde in Belleville geboren. 1976 erinnerte sich der Schriftsteller: «Ich habe von meiner Geburt 1936 bis zum Sommer 1942 in der Rue Vilin gewohnt. Die Rue Vilin im 20. Arrondissement, zwischen der Rue des Couronnes und der Rue Piat, ist seit mehreren Jahren am Verschwinden. Eins nach dem andern wurden die Geschäfte geschlossen, die Fenster zugemauert, die Häuser abgerissen . . .» Heute existiert nur noch ein Stumpf der Strasse; ihr grösster Teil ist dem 1988 eröffneten Parc de Belleville gewichen.
Das Belvedere entlang der Rue Piat bietet einen atemraubenden Panoramablick über Paris. Auch sonst weist der Park ein ganz eigenes Profil auf. Seine Weinreben, seine riesige, an Felswände mit Grotten gemahnende Betonskulptur und die in fontänensprühende Becken schiessenden Kaskaden spielen auf die Topographie des bis 1844 vor den Stadtmauern gelegenen Faubourg an: Weinberge, Gipsbrüche und das im Viertel allgegenwärtige (Quell-)Wasser, von dem noch so mancher Strassenname kündet.
Die Rue Vilin gibt es nicht mehr - aber der Geist des alten Belleville, so mag man die Botschaft des Parks mitten in seinem Herzen deuten, lebt fort. Paradox genug: Kaum woanders in Paris sind seit 1945 so viele alte Bauten zerstört, kaum woanders so viele Hochhäuser mit Sozialwohnungen aus dem Boden gestampft worden. Aber obwohl sich alles geändert hat, ist im Grunde doch alles gleich geblieben. Massive urbanistische Eingriffe haben das Äussere von Belleville entstellt, sein Inneres jedoch - sein Wesen, sein Charakter, seine unverwechselbare Atmosphäre - ist intakt.
Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen. Erstens schafft das ständige Auf und Ab am Hang des 128 Meter hohen Hügels mit seinem Wechsel gewundener Gässchen und linienförmiger Strassen eine Vielzahl von Perspektiven, Durchblicken und jähen Kontrasten, die den Flaneur von einer Überraschung zur nächsten geleiten. Zweitens wirkt der architektonische Bestand, so medioker er an sich auch sein mag, für das an die homogene Innenstadt des Barons Haussmann gewöhnte Auge aufregend eklektisch. Die Fassaden sind mit Holz, Keramik oder bunten Ziegeln verkleidet; wenige Schritte führen von der anonymen Wohnmaschine zur bilderbuchartigen Dorfkirche, vom windschiefen Hexenhäuschen zum Betonkubus.
Endlich mag man noch so resistent sein gegen den Multikulti-Hype, das Völkergemisch von Belleville berauscht einen doch jedes Mal aufs Neue. Die Frauen tragen Kleider in allen Farben und Formen, die Stimmen der Kinder hallen in den Ohren nach. Das Gewimmel von «Arabern und Schwarzen aller Afrikas, Armeniern und Juden aller Irrfahrten, Chinesen der zahllosen Chinas, Griechen, Türken, Serben und Kroaten des sehr geeinten Europas, Jungen und Alten, Männern und Frauen, Juden, Christen und Muslims, Hunden und Tauben», so Daniel Pennac in «Monsieur Malaussène», hat Bücher zuhauf gezeitigt. Doch letztlich entzieht sich das Viertel jeder Beschreibung. Quecksilbrig und wechselhaft, ist Belleville weder zu fassen noch zu fixieren.
Marc Zitzmann