Katja Kullmanns Überlegungen zur Prekarität
Für die aktuelle Ausgabe von Kritisch-Lesen.de hat Katja Kullmann eine lesenswerte Rezension von Didier Eribons Buch "Rückkehr nach Reims" verfasst, die interessante Überlegungen zu den verschiedenen Ausprägungen von Prekarität enthält; die Nähe vom journalistischen zum wissenschaftlichen Prekariat liegt auf der Hand. Die abschließenden Passagen daraus lauten:
Eine spezifische heutige Dialektik wird bei Eribon indes kaum erwähnt – aber sie könnte der Anknüpfungspunkt sein, von dem aus linke Kräfte weiterdenken sollten. Die Dialektik besteht darin, dass viele derjenigen, die heute reich an Bildung und Benehmen sind, ökonomisch oft so schlecht dastehen wie ihre proletarischen Zeitgenoss_innen. Die Stichworte lauten etwa „Selbstausbeutung“,, „Honorardumping“, „Kreativwirtschaft“ und „Wissenschafts-Misere“. Ein Hilfsarbeiter, der keinen anerkannten Schulabschluss hat, aber eine Festanstellung in einem Warenlager, erzielt mitunter ein höheres Jahreseinkommen und ist auch in Sachen Rente und Gesundheit vielleicht besser abgesichert als ein „freelancender“, „aufstockender“ oder sonst wie wechselhaft beschäftigter freier Journalist mit Doktortitel, der sich von 80-Euro-Auftrag zu 80-Euro-Auftrag hangelt. Beide mögen letztlich gleich viel (oder gleich wenig) Geld zur Verfügung haben. Was sie unterscheidet: Der eine hat Möglichkeiten, über den anderen zu schreiben – sich quasi über ihn zu erheben. Und er kann sich seine eigene Existenz schön reden und etwaige eigene Kränkungen in ästhetische Formen gießen, in ein Buch oder wenigstens ein »geliktes« Instagram-Tagebuch: (...)
Eindringlicher als Eribon hat es lange schon niemand mehr aufgezeigt: Die Verteilungskämpfe der Gegenwart und nahen Zukunft werden sich verstärkt auf dem Bourdieuschen „weichen“ Kapitalmarkt abspielen. Bildung, in jedweder Hinsicht, ist das entscheidende Instrument für Selbstermächtigung.
Wenn man an diesem Punkt weiterdenkt, wird klar, dass den aufgestiegenen Bildungsgewinner_innen eine Schlüsselposition zukommt. Um etwa Kampfschriften zu formulieren, Kongresse oder Demonstrationen zu organisieren, eine mobilisierte Öffentlichkeit herzustellen, muss man sich ausdrücken können und wissen, wie Aufmerksamkeit funktioniert. Die aufgestiegenen Besserwisser verfügen über die Mittel, die nötig sind, um den einstweilen „Abgehängten“ mehr Gehör und Einfluss zu verschaffen. Um den Kontakt, den Austausch, zwischen beiden zu verbessern, sollten die Bildungsgewinner vielleicht ihre Sprache ändern, ihr Vokabular updaten. Ein durchlässiges, demokratisches, vermittelndes Sprechen ist jetzt gefragt. Eine Hybridsprache vielleicht, die sich irgendwo zwischen dem hochtrabenden Theorie-Ton der Universitäten und Leitartikel und dem bodennahen Bushaltestellenduktus bewegt.
Schauen wir noch einmal zum ungelernten Lagerarbeiter und zum freien Journalisten mit Doktortitel: Beide haben viel mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick erscheint. So, wie die physische Kraft des Lagerarbeiters auf dem Arbeitsmarkt nur noch wenig zählt, so kann auch ein akademischer Grad längst gnadenlos entwertet sein. In beiden Fällen wird das Geld am Ende des Monats knapp. Dennoch ist der Journalist – nach Bourdieu gerechnet, von Eribon nacherlebt – der Reichere, der Stärkere von beiden. Wenn er sich dazu durchringen könnte, seiner eigenen fortschreitenden Prekarisierung und Marginalisierung ins Auge zu blicken, würden ihm vielleicht neue Wege einfallen, wie er doch noch mit dem Kollegen im Warenlager ins Gespräch kommt. Um gemeinsam die Schlagkraft zu erhöhen, ganz einfach.
Eine spezifische heutige Dialektik wird bei Eribon indes kaum erwähnt – aber sie könnte der Anknüpfungspunkt sein, von dem aus linke Kräfte weiterdenken sollten. Die Dialektik besteht darin, dass viele derjenigen, die heute reich an Bildung und Benehmen sind, ökonomisch oft so schlecht dastehen wie ihre proletarischen Zeitgenoss_innen. Die Stichworte lauten etwa „Selbstausbeutung“,, „Honorardumping“, „Kreativwirtschaft“ und „Wissenschafts-Misere“. Ein Hilfsarbeiter, der keinen anerkannten Schulabschluss hat, aber eine Festanstellung in einem Warenlager, erzielt mitunter ein höheres Jahreseinkommen und ist auch in Sachen Rente und Gesundheit vielleicht besser abgesichert als ein „freelancender“, „aufstockender“ oder sonst wie wechselhaft beschäftigter freier Journalist mit Doktortitel, der sich von 80-Euro-Auftrag zu 80-Euro-Auftrag hangelt. Beide mögen letztlich gleich viel (oder gleich wenig) Geld zur Verfügung haben. Was sie unterscheidet: Der eine hat Möglichkeiten, über den anderen zu schreiben – sich quasi über ihn zu erheben. Und er kann sich seine eigene Existenz schön reden und etwaige eigene Kränkungen in ästhetische Formen gießen, in ein Buch oder wenigstens ein »geliktes« Instagram-Tagebuch: (...)
Eindringlicher als Eribon hat es lange schon niemand mehr aufgezeigt: Die Verteilungskämpfe der Gegenwart und nahen Zukunft werden sich verstärkt auf dem Bourdieuschen „weichen“ Kapitalmarkt abspielen. Bildung, in jedweder Hinsicht, ist das entscheidende Instrument für Selbstermächtigung.
Wenn man an diesem Punkt weiterdenkt, wird klar, dass den aufgestiegenen Bildungsgewinner_innen eine Schlüsselposition zukommt. Um etwa Kampfschriften zu formulieren, Kongresse oder Demonstrationen zu organisieren, eine mobilisierte Öffentlichkeit herzustellen, muss man sich ausdrücken können und wissen, wie Aufmerksamkeit funktioniert. Die aufgestiegenen Besserwisser verfügen über die Mittel, die nötig sind, um den einstweilen „Abgehängten“ mehr Gehör und Einfluss zu verschaffen. Um den Kontakt, den Austausch, zwischen beiden zu verbessern, sollten die Bildungsgewinner vielleicht ihre Sprache ändern, ihr Vokabular updaten. Ein durchlässiges, demokratisches, vermittelndes Sprechen ist jetzt gefragt. Eine Hybridsprache vielleicht, die sich irgendwo zwischen dem hochtrabenden Theorie-Ton der Universitäten und Leitartikel und dem bodennahen Bushaltestellenduktus bewegt.
Schauen wir noch einmal zum ungelernten Lagerarbeiter und zum freien Journalisten mit Doktortitel: Beide haben viel mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick erscheint. So, wie die physische Kraft des Lagerarbeiters auf dem Arbeitsmarkt nur noch wenig zählt, so kann auch ein akademischer Grad längst gnadenlos entwertet sein. In beiden Fällen wird das Geld am Ende des Monats knapp. Dennoch ist der Journalist – nach Bourdieu gerechnet, von Eribon nacherlebt – der Reichere, der Stärkere von beiden. Wenn er sich dazu durchringen könnte, seiner eigenen fortschreitenden Prekarisierung und Marginalisierung ins Auge zu blicken, würden ihm vielleicht neue Wege einfallen, wie er doch noch mit dem Kollegen im Warenlager ins Gespräch kommt. Um gemeinsam die Schlagkraft zu erhöhen, ganz einfach.
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Arbeit - Di, 4. Okt. 2016, 15:53